Artikel vom 28.10.2025
Berührungsloser Unfall mit Rettungswagen – Wann besteht Anspruch auf Schadensersatz?
Verkehrsunfälle ohne direkte Berührung sind in der juristischen Praxis selten, aber rechtlich hochkomplex. Das Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) Oldenburg vom 17. Mai 2022 zeigt anschaulich, dass selbst bei einem sogenannten berührungslosen Unfall eine Haftung bestehen kann – zumindest teilweise. Im Zentrum des Verfahrens stand die Frage, ob eine Radfahrerin, die ohne Kontakt mit einem Rettungswagen zu Fall kam, Schadensersatz verlangen kann. Das Gericht stellte fest: Ja, unter bestimmten Voraussetzungen besteht ein Anspruch auf Schmerzensgeld und Haftungsersatz, selbst wenn kein physischer Zusammenstoß stattgefunden hat.
Hintergrund des Falles: Sturz ohne Zusammenstoß
Eine 72-jährige Radfahrerin war auf einem schmalen, in Ostfriesland gelegenen Weg unterwegs, als sich von hinten ein Rettungswagen mit eingeschaltetem Martinshorn und Blaulicht näherte. Der Weg war so eng, dass die Radfahrerin kaum Platz zum Ausweichen hatte. In dem Versuch, vom Rad abzusteigen und sich an den Rand zu begeben, verlor sie das Gleichgewicht, stürzte und verletzte sich. Zwischen dem Rettungsfahrzeug und der Radfahrerin kam es zu keiner Berührung.
Die Frau sah dennoch den Rettungswagen als Auslöser ihres Sturzes und machte Schadensersatz- sowie Schmerzensgeldansprüche geltend. Die Klage landete schließlich beim Oberlandesgericht Oldenburg, nachdem das erstinstanzliche Gericht ihre Forderung abgewiesen hatte.
Rechtliche Bewertung durch das OLG Oldenburg
Das OLG Oldenburg entschied, dass die Klägerin einen Anspruch auf Schadensersatz hat – allerdings nur teilweise. Nach Ansicht des Gerichts war der Sturz der Radfahrerin auf die „Betriebsgefahr“ des Rettungswagens zurückzuführen. Zwar habe keine direkte Berührung stattgefunden, doch habe sich die Gefahr, die vom fahrenden Rettungswagen ausging, realisiert.
Das Gericht sprach der Klägerin eine Haftungsquote von 20 Prozent zu. Damit wurde anerkannt, dass das Rettungsfahrzeug ein Mitverursacher des Unfalls war. Der weitaus größere Teil des Schadens blieb jedoch bei der Klägerin, da sie sich – nach Auffassung des Gerichts – nicht hinreichend vorsichtig verhalten hatte.
Betriebsgefahr im Verkehrsrecht – was bedeutet das?
Im deutschen Verkehrsrecht ist die sogenannte Betriebsgefahr ein zentraler Begriff. Sie beschreibt das Risiko, das von jedem in Betrieb befindlichen Kraftfahrzeug ausgeht – unabhängig davon, ob der Fahrer ein Verschulden trifft oder nicht. Nach § 7 Abs. 1 Straßenverkehrsgesetz (StVG) haftet der Halter eines Fahrzeugs für Schäden, die beim Betrieb des Fahrzeugs entstehen.
Das OLG Oldenburg stellte klar, dass die Betriebsgefahr auch dann zum Tragen kommen kann, wenn keine direkte Kollision stattfindet. Entscheidend ist, dass die Gefahr, die von dem Fahrzeug ausgeht, sich tatsächlich realisiert hat. Im vorliegenden Fall sah das Gericht diese Gefahr in der Kombination aus engem Weg, akustischem Signal und dem verständlichen Schreckmoment der Radfahrerin.
Das Verhalten des Rettungswagens – rechtlich gerechtfertigt, aber haftungsrelevant
Rettungsfahrzeuge dürfen nach § 38 Abs. 1 StVO bei eingeschaltetem Blaulicht und Martinshorn Sonderrechte in Anspruch nehmen. Das bedeutet, dass sie von den allgemeinen Verkehrsregeln abweichen dürfen, wenn höchste Eile geboten ist, um Menschenleben zu retten oder schwere gesundheitliche Schäden abzuwenden. Dennoch müssen Fahrer von Einsatzfahrzeugen auch in solchen Situationen Rücksicht auf andere Verkehrsteilnehmer nehmen.
Im entschiedenen Fall war das Einschalten des Martinshorns und die Fahrweise des Rettungswagens rechtlich zulässig. Dennoch stellte das Gericht fest, dass durch das Auftreten des Fahrzeugs eine objektive Gefahrenlage für die Radfahrerin geschaffen wurde. Das Haftungsrecht unterscheidet nämlich nicht nach der Motivation des Handelnden, sondern danach, ob sich eine betriebsbezogene Gefahr verwirklicht hat.
Mitverschulden der Radfahrerin – 80 Prozent Eigenverantwortung
Das Gericht sah es als erwiesen an, dass die Radfahrerin selbst eine erhebliche Mitschuld an ihrem Sturz trug. Sie hätte das Fahrrad kontrolliert zum Stillstand bringen und absteigen können, ohne in Panik zu geraten. Auch wenn der enge Weg eine Herausforderung darstellte, habe sie nicht die erforderliche Umsicht gezeigt.
Diese Einschätzung führte zu einer Haftungsverteilung von 80 zu 20. Das bedeutet: Die Klägerin muss 80 Prozent ihres Schadens selbst tragen, während der Träger des Rettungsdienstes – als Halter des Fahrzeugs – für 20 Prozent haftet.
Juristische Einordnung des Urteils im Verkehrsrecht
Das Urteil des OLG Oldenburg ist rechtlich bedeutsam, weil es die Grenzen der sogenannten „berührungslosen Unfälle“ aufzeigt. In der Regel ist eine Haftung für Unfälle ohne Kontakt nur dann gegeben, wenn sich die spezifische Betriebsgefahr eines Kraftfahrzeugs realisiert hat. Das ist dann der Fall, wenn die Handlung oder das bloße Auftreten des Fahrzeugs eine unfallursächliche Reaktion auslöst – wie im Fall der Radfahrerin, die aus Schreck über den herannahenden Rettungswagen stürzte.
Damit bestätigt das Gericht eine gefestigte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH), wonach eine Haftung auch ohne Kollision denkbar ist, sofern die Fahrweise oder das Verhalten des Kfz-Führers eine typische Gefährdungssituation schafft.
Relevanz für die Praxis: Wann besteht Anspruch auf Schmerzensgeld bei berührungslosen Unfällen?
Für Verkehrsteilnehmer bedeutet dieses Urteil: Auch wenn kein direkter Kontakt mit einem anderen Fahrzeug stattfindet, kann unter bestimmten Umständen ein Schadensersatzanspruch bestehen. Entscheidend ist, dass sich die Gefährdung aus dem Betrieb des Fahrzeugs ergibt – etwa durch ein riskantes Überholmanöver, das plötzliche Einscheren oder, wie hier, das Herannahen eines Einsatzfahrzeugs mit Blaulicht und Martinshorn.
Wer durch eine solche Situation zu Fall kommt oder eine Schreckreaktion erleidet, muss jedoch nachweisen, dass der Unfall nicht allein auf eigenes Fehlverhalten zurückzuführen ist. In der Praxis gelingt dieser Nachweis nur selten, weshalb Gerichte häufig eine Mithaftung des Geschädigten annehmen.
Haftungsverteilung als Ausdruck praktischer Gerechtigkeit
Das OLG Oldenburg wählte mit der Haftungsquote von 20 Prozent einen Mittelweg zwischen der strengen Anwendung des Verschuldensprinzips und dem Schutz schwächerer Verkehrsteilnehmer. Die Entscheidung zeigt, dass das Verkehrsrecht in Deutschland stets eine Interessenabwägung zwischen Verkehrssicherheit, individueller Verantwortung und den besonderen Umständen des Einzelfalls verlangt.
Das Urteil mahnt zugleich zu besonderer Vorsicht im Straßenverkehr – insbesondere bei Einsatzfahrzeugen. Fahrer solcher Fahrzeuge sollten, auch bei Eile, stets die Reaktion anderer Verkehrsteilnehmer im Blick behalten. Ebenso sind Radfahrer und Fußgänger verpflichtet, Ruhe zu bewahren und sich so zu verhalten, dass sie keine zusätzlichen Gefahren hervorrufen.
Fazit aus verkehrsrechtlicher Sicht
Das Urteil des OLG Oldenburg verdeutlicht, dass die Haftung im Straßenverkehr nicht ausschließlich von einer Berührung der Fahrzeuge abhängt. Vielmehr genügt es, wenn sich die Betriebsgefahr eines Kraftfahrzeugs in einer konkreten Gefährdungslage realisiert, die zum Schaden führt.
Wer im Straßenverkehr durch das Verhalten anderer in eine gefährliche Situation gerät, sollte wissen: Auch ohne Zusammenstoß kann unter bestimmten Voraussetzungen ein Schadensersatzanspruch bestehen – allerdings fast immer unter Berücksichtigung einer eigenen Mitschuld.
Quelle(n): Oberlandesgericht Oldenburg, Urteil vom 17.05.2022 – 2 U 8/22 Bild von wal_172619 auf Pixabay