Artikel vom 29.10.2025

Ermittlungsfehler vor Gericht – Bundesverfassungsgericht kippt Bußgeld wegen unzureichender Beweisaufnahme

Das Bundesverfassungsgericht hat in einem bemerkenswerten Beschluss eine Entscheidung des Amtsgerichts Siegburg aufgehoben, die einen Autofahrer wegen Überschreitung der Parkdauer zu einer Geldbuße von 30 Euro verurteilt hatte. Der Fall zeigt exemplarisch, wie wichtig die Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze – insbesondere der Beweiswürdigung und der Unschuldsvermutung – auch in vermeintlich geringfügigen Verkehrsordnungswidrigkeiten ist.

Ausgangspunkt: 30 Euro wegen Überschreitung der Parkzeit

Dem Verfahren lag ein Bußgeldbescheid der Stadt Siegburg zugrunde. Dem Beschwerdeführer wurde vorgeworfen, am 6. Oktober 2022 als Fahrer und Halter seines Pkw die zulässige Höchstparkdauer von einer Stunde überschritten zu haben. Grundlage war ein Parkverstoß nach § 13 Absatz 1 und 2 Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) in Verbindung mit § 49 StVO sowie § 24 Straßenverkehrsgesetz (StVG) und dem Tatbestand Nr. 63.3 des Bußgeldkatalogs.

Der Bürgermeister der Kreisstadt setzte daraufhin eine Geldbuße in Höhe von 30 Euro fest. Der Beschwerdeführer legte gegen diesen Bescheid Einspruch ein, da er bestritt, das Fahrzeug selbst zur fraglichen Zeit gefahren oder abgestellt zu haben.

Entscheidung des Amtsgerichts Siegburg: Verurteilung trotz fehlender Fahrerfeststellung

Das Amtsgericht Siegburg bestätigte den Bußgeldbescheid am 23. Mai 2023. Es war überzeugt, dass der Beschwerdeführer das Fahrzeug selbst geparkt hatte, und verhängte wegen fahrlässigen Überschreitens der Parkzeit erneut eine Geldbuße von 30 Euro.

Als Beweisgrundlage zog das Gericht lediglich die im Bußgeldverfahren erhobenen Fotos heran, auf denen das Fahrzeug mit abgelaufener Parkzeit zu sehen war. Eine unmittelbare Beweisaufnahme fand nicht statt – insbesondere wurde keine Zeugin geladen, die den Vorgang hätte bestätigen können. Auch eine konkrete Fahrerfeststellung erfolgte nicht.

Das Gericht stützte seine Überzeugung im Wesentlichen darauf, dass der Beschwerdeführer als Halter des Fahrzeugs eingetragen war und keine gegenteiligen Angaben machte. Damit, so das Gericht, sei nach der Lebenserfahrung davon auszugehen, dass der Halter auch der Fahrer sei.

Kritik: Rückschluss vom Halter auf den Fahrer ist rechtlich unzulässig

Der Beschwerdeführer argumentierte in seiner Rechtsbeschwerde, dass dieser Rückschluss rechtswidrig sei. Im deutschen Verkehrsrecht – ebenso wie im Strafprozessrecht – gilt der Grundsatz, dass der Fahrer eines Fahrzeugs individuell nachgewiesen werden muss. Allein die Haltereigenschaft reicht nicht aus, um eine Ordnungswidrigkeit nachzuweisen.

Bereits frühere Entscheidungen, etwa des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 18, 85), haben betont, dass eine Verurteilung nicht allein auf Mutmaßungen beruhen darf. Wird jemand nur deshalb sanktioniert, weil er Halter eines Fahrzeugs ist, verletzt dies die Unschuldsvermutung aus Artikel 6 Absatz 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sowie das Willkürverbot nach Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz (GG).

Oberlandesgericht Köln lehnt Rechtsbeschwerde ab

Das Oberlandesgericht Köln wies den Antrag des Beschwerdeführers auf Zulassung der Rechtsbeschwerde mit Beschluss vom 12. September 2023 (Az. III 1 ORbs 292/23) ab. Es sah keine grundsätzliche Bedeutung des Falls und keine Verletzung rechtlichen Gehörs. Damit wurde das Urteil des Amtsgerichts rechtskräftig – zumindest vorläufig.

Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht

Der Beschwerdeführer legte daraufhin am 9. Oktober 2023 Verfassungsbeschwerde ein. Er machte geltend, dass die Entscheidung gegen seine Rechte aus Artikel 3 Absatz 1 GG (Gleichheitssatz) und Artikel 20 Absatz 3 GG (Rechtsstaatsprinzip) verstoße.

Zentraler Punkt der Beschwerde war, dass die Gerichte ohne ausreichende Beweisaufnahme allein aus der Haltereigenschaft auf die Täterschaft geschlossen hatten. Der Beschwerdeführer verwies darauf, dass keine Zeugen gehört, keine weiteren Ermittlungen durchgeführt und lediglich ein Foto des Fahrzeugs verwertet worden seien.

Damit, so die Argumentation, werde der Grundsatz der Unschuldsvermutung in sein Gegenteil verkehrt: Der Betroffene müsse seine Unschuld beweisen, obwohl die Behörde den Fahrer nicht identifizieren konnte.

Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Das Bundesverfassungsgericht gab der Verfassungsbeschwerde statt. Es stellte fest, dass die Entscheidung des Amtsgerichts Siegburg den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 GG verletzt habe. Das Gericht sah einen eindeutigen Verstoß gegen das Willkürverbot.

Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts hatte das Amtsgericht wesentliche Beweisanforderungen missachtet. Eine Verurteilung allein auf Grundlage der Haltereigenschaft sei mit den verfassungsrechtlichen Grundsätzen des fairen Verfahrens unvereinbar. Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 261 StPO analog) entbinde die Gerichte nicht davon, tragfähige Beweise zu erheben.

Der Fall wurde zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht Siegburg zurückverwiesen. Gleichzeitig erklärte das Bundesverfassungsgericht den Beschluss des Oberlandesgerichts Köln über die Nichtzulassung der Rechtsbeschwerde für gegenstandslos.

Bedeutung für das deutsche Verkehrsrecht

Die Entscheidung hat erhebliche Bedeutung für das gesamte Ordnungswidrigkeitenrecht, insbesondere bei Verkehrsverstößen, die auf automatisierten Verfahren oder Indizien beruhen.

Im Unterschied zu Ländern wie Österreich oder Frankreich, in denen Halterhaftung im Straßenverkehr teils gesetzlich normiert ist, gilt in Deutschland das sogenannte Fahrerprinzip. Danach haftet grundsätzlich nur, wer die Tat tatsächlich begangen hat. Die bloße Haltereigenschaft begründet keine Verantwortlichkeit für Verkehrsverstöße – es sei denn, der Gesetzgeber sieht ausdrücklich eine Ausnahme vor (etwa bei Verstößen gegen die Pflicht zur Versicherung oder Fahrzeugzulassung).

Das Urteil bekräftigt diesen Grundsatz und stellt klar, dass Behörden und Gerichte bei Bußgeldverfahren sorgfältig zwischen Halter- und Fahrerhaftung unterscheiden müssen.

Konsequenzen für Bußgeldverfahren

Für die Praxis bedeutet die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts:

  • Behörden dürfen nicht allein aufgrund der Haltereigenschaft Bußgelder verhängen, wenn keine eindeutigen Beweise zur Fahrereigenschaft vorliegen.

  • Eine ordnungsgemäße Beweisaufnahme ist auch bei geringfügigen Ordnungswidrigkeiten zwingend erforderlich.

  • Betroffene haben das Recht, gegen unzureichend begründete Bußgeldbescheide vorzugehen.

  • Gerichte müssen die Unschuldsvermutung und das Willkürverbot auch in Bagatellfällen wahren.

Damit stärkt das Urteil die Verfahrensrechte von Verkehrsteilnehmern erheblich. Es verdeutlicht, dass das Rechtsstaatsprinzip – wie es Artikel 20 Absatz 3 GG garantiert – auch in Fällen mit geringem Bußgeld Anwendung findet.

Fazit

Der Fall zeigt eindrucksvoll, dass auch bei vermeintlich kleinen Ordnungswidrigkeiten die Grundrechte der Bürger gewahrt bleiben müssen. Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt, dass keine Verurteilung erfolgen darf, wenn der Fahrer nicht eindeutig identifiziert wurde.

Damit setzt das Gericht ein wichtiges Signal für die Praxis des Verkehrsrechts: Rechtsstaatliche Grundsätze und die Unschuldsvermutung gelten uneingeschränkt – unabhängig davon, ob es um schwere Verkehrsdelikte oder ein Bußgeld von 30 Euro geht.


Quelle(n): Quelle: Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 8. Juli 2024 – Pressemitteilung Nr. 22/2024. Bild von Michael Schwarzenberger auf Pixabay


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