Artikel vom 28.10.2025

Haftung bei Abbiegeunfall nach § 9 StVO 

Bei Verkehrsunfällen, die beim Abbiegen entstehen, stellt sich häufig die Frage, wer den Schaden zu tragen hat. Ein aktuelles Urteil des Amtsgerichts Hanau (Az.: 39 C 81/22, 19.06.2024) zeigt klar, wie deutsche Gerichte die Haftung nach § 9 StVO und §§ 17, 18 StVG beurteilen. Die Entscheidung liefert wertvolle Hinweise für Autofahrer, Unfallgeschädigte und Versicherungen.

Der Unfallhergang im Überblick

Am 12. Februar 2021 kam es zu einem Zusammenstoß an einer Kreuzung in Hanau. Der Beklagte wollte mit seinem Pkw nach links abbiegen. Dabei kollidierte er mit einem entgegenkommenden Fahrzeug der Klägerin, die auf der Hauptstraße geradeaus fuhr. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit an der Unfallstelle betrug 30 km/h.

Beide Seiten berichteten unterschiedliche Versionen: Die Klägerin gab an, das Fahrzeug sei normal gefahren und der Unfall sei unvermeidbar gewesen. Die Beklagten behaupteten, das Gegenfahrzeug sei zu schnell unterwegs gewesen und hätte den Unfall verhindern können. Das Gericht zog einen Sachverständigen hinzu, der den Unfallhergang rekonstruierte und die Fahrgeschwindigkeit sowie die Sichtverhältnisse bewertete.

Rechtsgrundlagen beim Abbiegen

Nach § 9 Abs. 3 StVO gilt beim Linksabbiegen eine besondere Rücksichtspflicht: Wer abbiegt, muss den entgegenkommenden Verkehr durchfahren lassen. Ein Abbiegevorgang darf nur dann beginnen, wenn keine Gefährdung oder Behinderung anderer Verkehrsteilnehmer droht.

Die Rechtsprechung stützt sich auf den Anscheinsbeweis: Kommt es bei einem Linksabbiegen zu einer Kollision, spricht zunächst die Lebenserfahrung dafür, dass der Abbiegende die Hauptschuld trägt. Der Abbiegende kann dies nur widerlegen, wenn außergewöhnliche Umstände nachweisbar sind, zum Beispiel extreme Geschwindigkeitsüberschreitungen oder plötzliche Sichtbehinderungen.

Beweisaufnahme und Gutachten

Im Hanauer Fall wurden mehrere Zeugen vernommen und ein Sachverständiger hinzugezogen. Der Gutachter bestätigte, dass die Klägerin mit etwa 40 km/h unterwegs war – leicht über der erlaubten Geschwindigkeit, aber nicht so schnell, dass dies den Unfall erklärt hätte. Das Beklagtenfahrzeug hatte den Gegenverkehr bereits sehen können, begann jedoch den Abbiegevorgang zu früh und kollidierte mit dem Fahrzeug der Klägerin.

Das Gericht stellte fest, dass der Beklagte den Unfall durch falsche Einschätzung der Entfernung und Geschwindigkeit des entgegenkommenden Fahrzeugs verursacht hat. Die Annahme, die Klägerin hätte allein durch ihre Geschwindigkeit oder Reaktion den Unfall verschuldet, wurde widerlegt.

Haftungsverteilung nach StVG

Die Haftung wird nach §§ 17, 18 StVG nach den Verursachungsbeiträgen verteilt. In diesem Fall wurde entschieden, dass der Beklagte zu 80 Prozent haftet. Die Klägerin trägt 20 Prozent, da auch die Betriebsgefahr ihres Fahrzeugs zu berücksichtigen ist.

Betriebsgefahr beschreibt das allgemeine Risiko, das von jedem fahrenden Fahrzeug ausgeht. Selbst wenn kein direktes Fehlverhalten vorliegt, kann ein Fahrzeug in begrenztem Maße zur Haftung beitragen. Eine höhere Haftung der Klägerin kam nicht in Betracht, da keine grobe Pflichtverletzung vorlag.

Bedeutung des Anscheinsbeweises

Der Anscheinsbeweis spielt bei Abbiegeunfällen eine zentrale Rolle. Tritt ein Zusammenstoß zwischen einem Linksabbieger und dem Gegenverkehr auf, wird zunächst vermutet, dass der Abbiegende schuldhaft gehandelt hat. Nur wenn der Abbiegende nachweist, dass außergewöhnliche Umstände den Unfall verursacht haben, kann der Beweis widerlegt werden.

Im Hanauer Fall konnte der Beklagte den Anscheinsbeweis nicht entkräften. Die Sicht auf den Gegenverkehr war ausreichend, und das Abbiegen erfolgte trotz klar erkennbaren entgegenkommenden Verkehrs.

Versicherungsrechtliche Konsequenzen

Nach deutschem Recht haftet die Kfz-Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers für den entstandenen Schaden (§ 115 VVG i.V.m. § 1 PflVG). Dazu gehören Reparaturkosten, Nutzungsausfall, Gutachterkosten sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten.

Das Amtsgericht Hanau verpflichtete die Versicherung des Beklagten, den überwiegenden Teil des Schadens zu übernehmen. Die Klägerin erhielt 80 Prozent der Schadenssumme sowie die vorgerichtlichen Anwaltskosten.

Unvermeidbarkeit des Unfalls

Das Gericht stellte klar, dass der Unfall nicht unvermeidbar war. Ein Unfall gilt nur dann als unvermeidbar, wenn er selbst bei größtmöglicher Sorgfalt nicht hätte verhindert werden können. Hätte der Beklagte auf den Gegenverkehr geachtet und den Abbiegevorgang verzögert, wäre der Zusammenstoß vermeidbar gewesen.

Praktische Hinweise für Verkehrsteilnehmer

Das Urteil verdeutlicht die hohen Anforderungen an Fahrer, die links abbiegen:

  • Linksabbieger müssen den Gegenverkehr vollständig passieren lassen, bevor sie abbiegen.

  • Eine falsche Einschätzung von Geschwindigkeit oder Entfernung kann schnell zu überwiegender Haftung führen.

  • Auch bei leicht überhöhter Geschwindigkeit des Gegenverkehrs bleibt die Hauptschuld beim Abbiegenden, wenn keine außergewöhnlichen Umstände vorliegen.

Für Versicherungen bedeutet das Urteil: Bei der Regulierung von Abbiegeunfällen ist sorgfältig zu prüfen, ob ein Verstoß gegen § 9 StVO vorliegt. Ist dies der Fall, ist eine überwiegende Haftung des Abbiegenden die Regel.

Zusammenfassung für Rechtsanwender und Verkehrsteilnehmer

Das AG Hanau zeigt: Wer links abbiegt, trägt eine besondere Verantwortung. Die Entscheidung stützt sich auf klare rechtliche Grundlagen:

  • § 9 Abs. 3 StVO regelt die Wartepflicht gegenüber entgegenkommendem Verkehr.

  • Der Anscheinsbeweis erleichtert die Haftungsfeststellung für das Gericht.

  • Die Betriebsgefahr des Fahrzeugs wird bei der Haftungsverteilung berücksichtigt.

  • Versicherungen müssen den Schaden des Geschädigten weitgehend übernehmen, wenn der Abbiegende schuldhaft handelt.

Für Fahrer bedeutet dies: Vorausschauend fahren, den Gegenverkehr frühzeitig beobachten und bei Zweifeln lieber warten. Für Geschädigte ist das Urteil eine klare Bestätigung ihres Anspruchs auf Schadensersatz.


Quelle(n): https://www.verkehrsrechtsiegen.de/artikel/haftung-beim-linksabbiege-unfall-20-teilschuld-bei-tempoverstoss/ Bild von Gerd Altmann auf Pixabay


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