Artikel vom 24.10.2025

Totalschaden: Wann darf die Versicherung den Restwert höher ansetzen?

Nach einem Verkehrsunfall steht die Frage im Raum: Wer entscheidet über den Restwert eines Totalschadens, wenn das Fahrzeug noch fahrbereit ist? Eine Autofahrerin erlebte genau dieses Problem. Ihr Wagen war wirtschaftlich ein Totalschaden, aber noch fahrbereit. Während ihr Sachverständiger den Restwert auf 500 Euro bezifferte, setzte die gegnerische Haftpflichtversicherung 2.450 Euro an. Das führte zu einem Streit über die korrekte Berechnung des Schadensersatzes und die Rechte der Geschädigten im Verkehrsrecht.

So wird Schadensersatz berechnet

Bei einem Totalschaden berechnet sich der Schadensersatz grundsätzlich aus dem Wiederbeschaffungswert abzüglich des Restwerts. Im konkreten Fall lag der Wiederbeschaffungswert des Fahrzeugs bei 5.500 Euro. Der Sachverständige ermittelte den Restwert auf regionalem Markt mit 500 Euro. Die Versicherung forderte jedoch einen höheren Restwert von 2.450 Euro – ein Betrag, der nur über spezielle Online-Börsen erzielbar war.

Die Differenz hätte der Autofahrerin für die Ersatzbeschaffung ihres Fahrzeugs gefehlt. Dieser Konflikt führte schließlich vor das Landgericht Schweinfurt.

Erste Instanz: Amtsgericht setzt auf Schadensminderungspflicht

Das Amtsgericht Schweinfurt entschied zunächst zugunsten der Versicherung. Begründung: Die Schadensminderungspflicht im Versicherungsrecht verlangt, dass Geschädigte Schäden möglichst gering halten. Ein theoretischer Verkauf über eine Restwertbörse sei demnach zumutbar, auch wenn die Fahrerin das Fahrzeug weiter nutzen wollte. Die Klage wurde größtenteils abgewiesen.

Berufung: Weiternutzung schützt vor überhöhten Restwertforderungen

Die Autofahrerin legte Berufung beim Landgericht Schweinfurt ein. Sie argumentierte, dass sie ihr Fahrzeug weiterfahren wolle – ein Recht, das im Bürgerlichen Gesetzbuch (§ 249 BGB) als Dispositionsfreiheit verankert ist. Diese ermöglicht Geschädigten, frei zu entscheiden, wie sie den Schaden beheben.

Das Landgericht gab der Klägerin recht: Wer ein beschädigtes Fahrzeug weiter nutzt, muss keinen theoretischen Restwert akzeptieren, der nur über spezielle Online-Plattformen erzielbar ist. Die Entscheidung stärkt den Schutz der Geschädigten im Verkehrsrecht und Versicherungsrecht.

Restwert bei Totalschaden: Regionales Gutachten zählt

Die Richter stellten klar, dass für die Abrechnung bei Weiternutzung der Restwert aus regional verfügbaren Gutachterangeboten maßgeblich ist. Ein Verweis auf überregionale Online-Börsen, die einen sofortigen Verkauf erzwingen würden, sei unzumutbar und verletzt die Dispositionsfreiheit des Geschädigten. Versicherungen können nur dann höhere Restwertangebote ansetzen, wenn diese realistisch und ohne unzumutbaren Aufwand erreichbar sind.

Berechnung des endgültigen Schadensersatzes

Auf Grundlage dieser rechtlichen Bewertung setzte das Landgericht Schweinfurt den Schadensersatz wie folgt fest: Wiederbeschaffungswert 5.500 Euro minus Restwert 500 Euro plus Kosten für Gutachten (1.440,38 Euro), Reparaturbestätigung (129,71 Euro) und Auslagenpauschale (30 Euro). Gesamtschadenssumme: 6.600,09 Euro.

Die Versicherung hatte bereits 4.515,38 Euro gezahlt. Die Differenz von 2.084,71 Euro wurde inklusive Zinsen ausgeglichen, zudem musste die Versicherung die gesamten Anwaltskosten tragen.

Dispositionsfreiheit versus Schadensminderungspflicht

Das Urteil verdeutlicht zwei zentrale Prinzipien des Versicherungsrechts:

  • Dispositionsfreiheit: Geschädigte entscheiden selbst, ob sie ein beschädigtes Fahrzeug reparieren, verkaufen oder weiter nutzen.

  • Schadensminderungspflicht: Der Schaden muss so gering wie möglich gehalten werden, allerdings nicht unter unzumutbaren Bedingungen.

Die Entscheidung des Landgerichts zeigt, dass bei Totalschaden und Weiternutzung das Recht der Geschädigten auf Selbstbestimmung Vorrang hat.

Verkehrsrechtliche Relevanz

Im Verkehrsrecht spielt das Urteil eine wichtige Rolle: Unfallopfer müssen nicht auf theoretische Restwerte verwiesen werden, wenn sie ihr Fahrzeug behalten. Dies schützt die Rechte des Unfallopfers gegenüber der Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers. Versicherer dürfen nicht durch überregionale Restwertbörsen die Wahlfreiheit des Geschädigten untergraben.

Warum ein unabhängiges Gutachten entscheidend ist

Ein unabhängiges Sachverständigengutachten ist in Fällen von Totalschaden und Restwertstreit unerlässlich. Es dokumentiert objektiv:

  • Wiederbeschaffungswert eines gleichwertigen Fahrzeugs

  • Realistischen Restwert auf regionalem Markt

So wird verhindert, dass Versicherungen überhöhte Restwertforderungen ansetzen, die den Geschädigten benachteiligen.

Schlüsselerkenntnisse für Unfallopfer

  • Geschädigte bestimmen selbst, ob ein Totalschadenfahrzeug verkauft oder weiter genutzt wird.

  • Restwert bei Weiternutzung wird auf regionalem Markt ermittelt, nicht anhand überregionaler Online-Angebote.

  • Schadensminderungspflicht endet dort, wo unzumutbare Bedingungen die Dispositionsfreiheit verletzen.

  • Unabhängige Gutachten sichern die korrekte Berechnung von Wiederbeschaffungswert und Restwert.

Praxis-Tipp für Geschädigte

Wer nach einem Unfall sein Fahrzeug weiter nutzen möchte, sollte:

  • Ein unabhängiges Gutachten erstellen lassen

  • Alle regionalen Angebote für Restwert einholen

  • Keine Annahme überhöhter Online-Restwerte zulassen

Schlusswort

Nach einem Verkehrsunfall hat der Geschädigte Anspruch auf Schadensersatz, der ihn so stellen soll, als wäre der Unfall nie passiert. Dazu gehört, dass er frei entscheiden kann, wie er das beschädigte Fahrzeug behandelt – entweder Reparatur, Verkauf oder Weiternutzung. Bei einem Totalschaden wird der Wiederbeschaffungswert eines gleichwertigen Ersatzfahrzeugs ermittelt, während der Restwert den Betrag angibt, den das beschädigte Fahrzeug auf dem regionalen Markt noch erzielt. Entscheidet sich der Geschädigte, das Fahrzeug weiter zu nutzen, muss er sich nicht auf höhere Restwerte von Online-Börsen beziehen, da diese oft unrealistisch und mit sofortigem Verkaufsdruck verbunden sind. Ein unabhängiges Gutachten ist entscheidend, um die korrekten Werte festzulegen und sicherzustellen, dass die Versicherung keinen zu hohen Restwert ansetzt. Insgesamt schützt das Urteil die Rechte der Geschädigten, wahrt die Dispositionsfreiheit und regelt klar, wie Restwert und Schadensersatz im Versicherungsrecht berechnet werden.


Quelle(n): https://www.verkehrsrechtsiegen.de/artikel/totalschaden-versicherung-restwert-weiterfahren/


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